Lange vor unserer Zeit lebten in der Gegend um Niewisch arme, aber redliche Menschen. Sie bestritten ihren Lebensunterhalt, indem sie den Acker bestellten und sich um das Vieh kümmerten. Dort lebte auch ein schönes, junges Mädchen. Ihr Name war Margaret. Sie war die jüngste Tochter eines Bauern, der sich erst vor kurzem in Niewisch angesiedelt hatte. Margaret bekam von ihrem Vater die Aufgabe, ihre Gänse und Enten zu hüten, die am Schwielochsee Futter suchten. Da gab es noch eine Familie, die hier lebte und sich durch Mühe und Fleiß ihr täglich Brot verdiente. Zu dieser Familie gehörte Hannes, eine netter, fescher Bursche, der sich vom ersten Moment an, als er Margaret sah, in sie verliebte.
Aber leider war Hannes viel zu schüchtern und wagte es nicht, seine Auserwählte anzusprechen. Jeden Tag sah er sie, wie sie am See die Gänse hütete und sich die Zeit damit vertrieb, aus Blumen Kränze zu flechten und diese dann im Haar zu tragen.
Er sah aber auch, wie herzlich und gutmütig sie mit den Tieren umging. Sie sprach mit ihnen und liebkoste sie.
Oft dachte Hannes, wie schön es doch wäre, wenn er mit den Tieren tauschen könnte, um in der Nähe von Margaret zu sein.
Schon wenn sie sich nur zufällig begegneten, brachte er kein Wort über die Lippen, seine Kehle war wie zugeschnürt. Nur zu gerne hätte er ihr gesagt, was er für sie empfand und wie wunderschön sie doch wäre. Aber alles, was er heraus bekam, war ein gestammeltes „Guten Tag“ und danach stolperte er aus Verlegenheit gleich weiter.
Als er nun eines Tages voll Kummer und Gram am Ufer saß und auf den See blickte, erhob sich aus den tosenden Fluten eine Gestalt, die zu Hannes sprach: „Ich bin Neptun, der Herr des Wassers. Deine Tränen, die in den See getropft sind, haben mich zu dir geführt. Sage mir, warum bist du so traurig.?“
Im ersten Moment war Hannes natürlich sehr erschrocken, er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte. Als aber der erste Schreck vorüber war und er sich ein Herz gefasst hatte, erzählte er Neptun von seiner geheimen Liebe zu Margaret.
In seinen Worten klang soviel Leidenschaft und Sehnsucht. Man spürte aber auch den Schmerz und die Verzweiflung, als er so redete. Es brach ihm fast das Herz; das Glück war für ihn so nahe und doch so unerreichbar fern. Er wollte einmal nur in ihrer Nähe sein, sie berühren dürfen und ihrer lieblichen Stimme lauschen. Dafür würde Hannes alles tun.
Nachdenklich hörte Neptun zu und sprach: „Ich will dir gerne helfen. Sage mir, was ich für dich tun kann.“
Da fiel Hannes wieder ein, wie liebevoll Margaret mit den Tieren umging und wie oft er sich doch wünschte, an deren Stelle zu sein. Ohne lange zu zögern, sprach er seinen Wunsch aus: „Kannst du mich in ein Tier verwandeln, damit ich in ihrer Nähe sein kann?“
Für Neptun war dieser Wunsch natürlich kein Problem. „Ich bin der Herr des Wassers und ich kann dich nur in ein Tier verzaubern, das auf dem See lebt.“ Zufrieden antwortete Hannes: „Dann möchte ich ein Schwan sein.“
Kaum hatte er es ausgesprochen, da wurden seine Arme zu Flügeln und ein stolzer, weißer Schwan stand vor Neptun. Der verabschiedete sich von Hannes und wünschte ihm alles Gute.
Als Schwan nun schwamm er jeden Tag an den Platz, wo Margaret die Gänse hütete und es dauerte nicht lange, bis sie die besten Freunde wurden. Für Hannes war es der schönste Sommer seines Lebens, nie bereute er auch nur einen Augenblick seine Entscheidung. Seine Eltern aber waren sehr traurig, als Hannes nicht mehr nach Hause kam. Überall suchten sie, immer vergeblich. Niemand hatte den Jungen mehr gesehen.
Hannes aber besuchte sie fast täglich, auch wenn die Mutter nicht ahnen konnte, wie nahe sie ihrem Sohn war.
Der Sommer war zu Ende, der Herbst ging ins Land und alle anderen Schwäne verließen den Schwielochsee, um in wärmere Gefilde zu ziehen. Nur Hannes nicht, er blieb. Nie hätte er so lange ohne Margaret sein können.
Wie das Schicksal es wollte, wurde der Winter ungewöhnlich kalt und lang.
Hannes fror sehr und bald fand er auch nichts mehr zu essen. Alles lag unter einen dicken Schicht von Eis und Schnee. Um vor der Kälte Zuflucht zu suchen, kroch er unter eine Weide. Die Wellen in Zeiten des Hochwassers hatten die Weide unterspült und so einen Teil der Wurzeln freigelegt. Hannes hatte als Schwan ein dichtes Federkleid, aber dem Hunger konnte er nichts entgegensetzen. Geschwächt legte er sich in seine neue Behausung, dachte an Margaret und es dauerte nicht lange, bis er für immer einschlief. Die Weide legte ihre Wurzeln um Hannes, als würde sie ihn in den Armen halten und sie wurden eins miteinander.
Und jedes Jahr, wenn die Schwäne nach Süden zogen, vernahmen die Leute ein leises Weinen und Wimmern, dass aus der alten Weide herüber klang. Es war immer das selbe, kein Tier war zu dieser Zeit zu hören. Die Hunde hörten auf zu bellen, die Vögel sangen nicht, sogar die Bienen hörten auf zu summen. Alle Tiere schwiegen, bis auf die davon fliegenden Schwäne. Sie stießen grelle, laute Töne aus, als wollten sie sich von jemandem verabschieden.
So gingen viele Jahre ins Land, bis ein gewaltiger Sturm die nun schon uralte Weide fällte. Die Bauern, die immer Feuerholz brauchten, fingen an, den Baum zu zerlegen. Als sie sich am Wurzelballen zu schaffen machten, konnten sie kaum glauben, was sie dort entdeckten. Zwischen dem ganzen Geflecht am Fuße der Weide kam ein zu Holz gewordener Schwan zum Vorschein, unser Hannes. Dieses Wunder der Natur bewahrten die Leute gut auf.
Es ist sogar heute noch zu bestaunen im „Gasthaus Schwielochsee“ zu Niewisch.
Erzählt und aufgeschrieben von Dietmar Loichen, 2008